TUNE IN - ADALBERT SIFTER INSTITUT DES LANDES OÖ

 

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Kurt Palm - „Juliana M. – Donauwasserleiche“

Hier an der Donaulände wird er gestanden sein, der Herr Schulrat Stifter, und gehofft haben, dass Juliana doch noch lebend zurückkommt. Aber je länger er in das trübe Wasser starrte, desto deutlicher erschien das Bild der toten Ziehtochter vor ihm. Er wusste, dass er Juliana nie mehr sehen würde. Wieder einmal hatten sich die Dinge gegen ihn verschworen. Den Zettel mit Julianas letzter Botschaft hatte er in seine Hosentasche gesteckt. Obwohl er den Satz längst auswendig konnte, holte er das zerknitterte Stück Papier hervor und betrachtete die ungelenke Handschrift Julianas: „Ich gehe zu der Mutter in den großen Dienst.“ Dabei war ihre Mutter bereits vor vierzehn Jahren gestorben. Stifter fühlte sich schuldig, kämpfte aber gegen die aufkommende Panik an, die ihn wieder einmal in einen Abgrund zu stürzen drohte. Vor zwei Tagen, am 21. März 1859, um 5 Uhr 45, hatte er sie noch in der Küche gehört, wie sie das Frühstück für ihn zubereitete: Juliana Mohaupt, seine Ziehtochter und Haushalts-gehilfin. Zwölf Jahre arbeitete das Mädchen bei ihm und seiner Frau Amalia. Als Sechsjährige war sie aus Budapest zu ihnen gekommen. Ihre Ankunft hatte sich verzögert, weil sie kurz vor der Abfahrt von einem Hund gebissen worden war. Stifter kamen die Tränen, als er daran dachte, wie sehr er die kleine Julie geliebt hatte. Seine eigene Tochter war kurz nach der Geburt gestorben, am Wasserkopf. Amalia konnte keine Kinder mehr bekommen. Also holten sie sich aus der Verwandtschaft Kinder ins Haus. Als Ersatz. Dieses Mal war es Amalias Nichte Juliana gewesen. Mit Amalia konnte er darüber nicht sprechen. Es wäre sinnlos gewesen. Sie war es auch, die dafür gesorgt hatte, dass das Verhältnis zwischen Juliana und ihren Zieheltern immer unpersönlicher wurde. Zumindest bildete er sich das ein. Dass Amalia ihre Ziehtochter häufig schlug, wusste Stifter. Und trotzdem hatte er nichts dagegen unternommen. Er war jetzt 54 Jahre alt und in jeder Hinsicht gescheitert. Seine Leser hatten sich von ihm entfernt und er hatte keinen Menschen, mit dem er reden konnte. Linz war für ihn wie ein Gefängnis, nichts weiter als ein Dorf mit Gasbeleuchtung. Hottentottien. Seinen eigenen Anteil an dieser Entwicklung, die zwangsläufig in die Katastrophe führen musste, blendete er auch dieses Mal wieder aus. Das Verdrängen war ihm zur zweiten Natur geworden. Er drehte sich um und hatte jetzt die Donau im Rücken. Jenen Fluss also, der vor zwei Tagen Juliana verschluckt hatte. Die Abenddämmerung war hereingebrochen und in Stifters Wohnung brannte Licht. Von der Donau waren es nur ein paar Schritte zu dem Haus, in dem er nun bereits seit elf Jahren wohnte. Unterbrochen von Fluchten nach Lackenhäuser, Kirchschlag und einigen Dienstreisen in seiner Funktion als Inspektor für das Volksschulwesen in Oberösterreich. Eine nervenaufreibende und völlig sinnlose Tätigkeit. In der Nähe unterhielten sich Matrosen über ihre Fahrt nach Wien bei Sonnenaufgang. Sie standen neben ihrem kleinen Frachter und machten auf Stifter einen zufriedenen Eindruck. Warum waren alle anderen glücklich, während er das gesamte Unglück der Welt anzog wie ein Magnet. Vielleicht sollte er die Matrosen fragen, ob sie ihn mitnähmen.
Nach Wien. Aber auch Wien hasste er. Das Meer wäre die Rettung. Aber dazu hätte er das Geld gebraucht, das er in Westbahnaktien investiert hatte. Und die fielen gerade ins Bodenlose. Am Ende sollte er das Vierfache seiner Jahrespension verlieren. Hinter einem beleuchteten Fenster seiner Wohnung sah er einen Schatten. Es war der mächtige Schatten Amalias, die sich um ihre Seidenraupen kümmerte. Später würde sie ihre Stickerei zur Hand nehmen und im großen Lehnstuhl, mit Putzi am Schoß, einschlafen. Und dabei so laut schnarchen, dass es in der ganzen Wohnung zu hören wäre. Warum gehe ich nicht einfach in die Donau? Das Rauschen des Flusses klang verführerisch. „Komm, dann hat Dein Leid ein Ende und Du wirst erfahren, was mit Juliana geschehen ist.“ Würde er das wirklich? In Linz hatte sich Julianas Verschwinden bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. „Hast Du gehört? Das Hausmädchen des Herrn Hofrat ist schon wieder davongelaufen.“ „Kein Wunder, bei diesen Zieheltern.“ 27.000 Einwohner hatte Linz und man konnte nichts tun, ohne dass es am nächsten Tag nicht die ganze Stadt gewusst hätte. Sogar für Amalias Verdauungsprobleme interessierten sich die Leute. Das Leben hier war eine einzige Marter. Aber Stifter blieb stur. Fast trotzig sagte er: „Ich gebe den Schmerz nicht her, weil ich sonst auch das Göttliche hergeben müßte.“ Was das Göttliche in diesem Augenblick allerdings hätte sein sollen, wusste er nicht. Er blickte in den Nachthimmel und hoffte, dort eine Antwort zu finden. Aber er sah nur einen umgestülpten schwarzen Abgrund, einen ungeheuren Raum, den kein Mensch würde je in seinem Vorstellungsvermögen ergründen können. Keine Sterne funkelten. Warum war Juliana diesen Weg gegangen? Dass er als Erzieher versagt hatte, lag spätestens jetzt auf der Hand. Nein, er war nicht schuld an ihrem Tod.
Er überlegte krampfhaft, was er zu seiner Verteidigung vorbringen würde. In einer Zeitung hatte er kürzlich gelesen, dass der Selbstmord junger Frauen häufig seine Ursache in einer „übersetzung der Menstruation ins Gehirn“ habe. Ja, das könnte eine Erklärung sein. Amalia hatte sich oft genug über Julianas Wildheit und ihr zigeunerhaftes Wesen geärgert. Er hatte davor nur Angst. Und gab es da nicht diesen jungen Mann im Büro der Donaudampschifffahrtsgesellschaft, die sich im selben Haus wie Stifters Wohnung befand, der Juliana in letzter Zeit schöne Augen gemacht hatte? So wird es gewesen sein. Noch heute würde er an seine Freundin Louise von Eichendorff schreiben: „Sie hätte einem glücklichen Lose entgegen gehen können. Wir behandelten sie gut, sie bekam nie eine Strafe als nur Ermahnungen bei ihren Fehlern.“ Das war zwar gelogen, verschaffte ihm und Amalia aber eine kurze Atempause. Jetzt spürte Stifter die Kälte, die von der Donau heraufkroch, und er machte sich auf den Weg nach Hause.
Als er die Wohnung betrat, hörte er Amalias lautes Schnarchen. Er ging in die Küche, holte den Zettel aus der Hosentasche und warf ihn in den Ofen. Mit einem kurzen Zischen verbrannte das Papier. Im Schlafzimmer zog Stifter sein Nachthemd an, schrieb einen Brief an Louise von Eichendorff und legte sich ins Bett. Er hoffte, nie wieder aufzuwachen.

Am 19. April 1859 wurde eine unbekannte weibliche Leiche auf der Donauinsel bei Langenstein, nur 21 km von Stifters Wohnhaus entfernt, angeschwemmt. Zwei Tage später wurde die namenlose Wasserleiche auf dem Friedhof der Mühlviertler Gemeinde Sankt Georgen an der Gusen beigesetzt. Vier Tage nach dem Begräbnis stellte sich heraus, dass es sich bei der Toten um Juliana Mohaupt, der Ziehtochter Adalbert und Amalias Stifter, handelte. Pfarrer Johann Bauer, ein Feund Stifters aus gemeinsamen Schultagen in Kremsmünster, schrieb an den Herrn Hofrat, dass „die Leiche gut erhalten und nicht entstellt war und fast einen freundlichen Gesichtsausdruck gezeigt habe“. Bei einem Körper, der vier Wochen im Wasser gelegen war, natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Nach Julianas Selbstmord verkrochen sich Stifter und Amalia in ihren vier Wänden. Er widmete sich seiner Einsamkeit und den Kakteen, sie schenkte ihre ganze Zuneigung dem Schoßhündchen Putzi. Stifter notierte:
„Wir sind jetzt allein, zwei entlaubte Stämme.“ Wenig später wurde als neue Haushaltsgehilfin Julianas Schwester, Katharina Mohaupt, nach Linz geholt.

Neun Jahre nach Julianas Selbstmord versuchte Stifter ebenfalls, seinem Leben durch Selbsttötung ein Ende zu setzen. Das Vorhaben misslang. Adalbert Stifter starb an den Folgen einer Leberzirrhose. Amalia überlebte ihren Mann um fünfzehn Jahre.