TUNE IN - NEUER DOM

 

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Kurt Mitterndorfer - „Über Linz und die Literatur“

Der junge Mann klettert vorsichtig. Seine rechte Hand ertastet sich einen neuen Griff. Er probiert seine Festigkeit. Zieht sich dann langsam hoch. Jetzt holt er seinen linken Fuß nach, stützt ihn auf den fast glatten Ziegeln ab. Seine Free-Climber-Schuhe erleichtern ihm sein Vorhaben etwas.
Er ist nicht gesichert, und kein Netz kann seinen Sturz auffangen, sollte er abrutschen. Mehr als drei Stunden kämpft er sich so das Dach hinauf.

Die Vorarbeiten haben fast ein Jahr gedauert. Das größte Problem hat ihm nicht, wie er geglaubt hat, der Bischof gemacht. Das größte Problem war das Kulturamt. Zuerst ist es nur um den optimalen Termin gegangen. Die Aktion sollte unbedingt im “Europäischen Kulturhauptstadtjahr“ statt finden, sollte einer der Höhepunkte sein. Nachdem man sich auf den Termin geeinigt hatte, war er froh gewesen, das größte Hindernis aus der Welt geschafft zu haben. Da war plötzlich, im Frühjahr vor der Aktion, ein Schreiben des Kulturamtes im Postkasten gelegen. Er hatte schon die Absage seiner Performance befürchtet. Nichts davon war zu lesen. Das Kulturamt hatte ihm nur eine zusätzliche Auflage gegeben, er musste – zum Schutz des sicherlich auch internationalen Publikums – für die entsprechenden Absperrungen garantieren. Die Teerag-Asdag sprang ihm kurzfristig als Sponsor ein und plante die weiträumige Absperrung mit Gittern. Das Kulturamt sagte ihm daraufhin die kostenlose Bereitstellung von 50 Ordnern zu.

Endlich steht er oben. Die Sehnen seiner Hände schmerzen, sein Nacken ist verspannt, in den Augen brennt ihm der Schweiß. Er muss einige Minuten verschnaufen. Der Ausblick ist berauschend. Er macht die erste Sprechprobe. Das Funkmikro funktioniert, er hört sich zeitverzögert unten aus den Lautsprechern bis zehn zählen. Er stellt sich, so bequem es geht, auf einem Sandsteinsims auf und zieht vorsichtig aus der Gesäßtasche seiner eng anliegenden, poppigen Kletterhose sein Manuskript heraus. Kurz überfliegt er die ersten Zeilen.

Es ist Samstag, 19.55 Uhr. Er ist im Zeitplan. In der Linken das Manuskript haltend überprüft er mit der Rechten den Sitz der Gleitschirmgurte. Jetzt holt er vorsichtig die Auslöser-leine zu sich nach vorne, die Lenkgriffe. Er schaut auf die Uhr. 19.58 Uhr. Noch einmal überprüft er die Haltegurte. Jetzt faltet er wieder das Manuskript auf und nimmt es fest in beide Hände. In der rechten zusätzlich die Reißleine und den rechten Steuergriff, in der linken den linken Steuergriff. 20.00 Uhr. Er schaut auf den Vorplatz des Neuen Doms hinunter. Eine unheimlich große Menge von kleinen Menschen hat sich angesammelt. In der Mitte des Publikums ein Geviert aus Gitterabsperrungen, darin seine Bodenstation und etwa 50 Klappsessel für den europäischen Kulturbeauftragten, der auf Einladung des Bürgermeisters und Kosten der Stadt extra angereist war zu dieser Aktion, den Bürgermeister mit Gattin, den Kulturstadtrat mit Frau und Kindern, den Kulturamtsdirektor mit Gattin und Kindern und etliche andere wichtige Menschen aus Politik und Wirtschaft, Medienmenschen aus Linz, Wien, Salzburg, St. Pölten und Graz, drei Fernsehteams und sein eigenes Aufnahme-Team.

Jetzt im Kopfhörer das Kommando: “Zehn, neun, acht sieben, sechs, fünf, vier,“ – sein Körper spannt sich, er geht in Sprungposition – “drei, zwei, eins, go!“ Kraftvoll stößt er sich ab, schnellt er los, fliegt er zuerst hinaus, nach vorne, dann beginnt der freie Fall. Er liest. Sein Text, den er niemandem anvertraut hat bis zum heutigen Tag, kommt gut. Er trägt den Titel “Vom Elend der Literatur in dieser Stadt“. Er liest und stürzt fünf Sekunden auf den Vorplatz hinunter. Im Kopfhörer ein “Jetzt!“, er zieht die Reißleine. Der Gleitschirm wird aus dem Rucksack gerissen und öffnet sich. Er liest weiter, während er majestätisch hinunter schwebt auf die Menge zu. Kaum hat er seine Lesung beendet, landet er vor dem Domplatz auf der abgesperrten Rudigierstraße und läuft aus. Die Menge applaudiert und tobt. Gelungen. Linz und die Literatur.
Ein atemberaubendes Ereignis. Immer wieder.