TUNE IN - HESSENPLATZ
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Harald Gebhartl - „Linzer Tante!“ Swar kalt, swar Nacht, swar nass, swar Regen, swar Linz. Er kam sich wie in einem Schundroman vor. Er kniete im Trenchcoat auf Linzer Asphalt, auf pissnassem
eiskalten Dametzstraßen-Trottoir, das er unangenehm zu spüren begann, weil sich die Nässe, die Kälte, langsam durch den Stoff seiner braunen Cordhose, durch seine Beinhaut in sein üppiges Beinfleisch, seine Knie, in seine Knöchel saugte, fraß, hinaufzupochen begann bis in sein oberösterreichisches Gehirn. Poch! Poch! Deshalb war er aufgewacht. Deshalb war er aus seinem
Traum gefallen. Poch! Poch! Deshalb verzogen sich jetzt diese angenehmen undurchsichtigen vielversprechenden Schleier aus seinem Kopf. Diese – wie er meinte – kosmischen, grundsätzlich wunderbaren Kopfnebel. Poch! Poch! Reality is here again! Sogar wenns im Bett nur verschlagen nach eigenem Stoffwechsel roch war das nicht so schlecht. Da riecht man sich vor allem selber und selber kann man sich ja riechen! Jawohl! Mit einem am Vorabend megaschnell gekochten (und ebenso schnell verzehrten) Mikrowellenherdessen etwa, konnte man durchaus akzeptable Morgenresultate erzielen. Vier oder fünf Packungen panierte Pute auf Shrimps süßsauer mit doppelt Eiernudeln, Butterreis und zwei bis drei ordentlichen Portionen Zuckerbohnen, konnten beim Erwachen sympathische Ausdünstungen bescheren wie ein von Celine Dion zart gepfiffenes oder gehauchtes My Heart will go onhhhpf... ! Bett war Bett, Asphalt war kalt. Fuck this icy dirty World away! Auf pissnassem Asphalt sollte man nicht aus Träumen geworfen werden dürfen! Schlafen um zu überleben! Träumen für ein bisschen Frieden! Nichts mehr wissen von dieser dreckigen verstunkenen Welt! Das war förderlich für die Existenz! Wegtreten! Abtreten! Abträumen!... Feuchter eisiger Linzer Stadtwind pfiff ihm ins füllige Gesicht. Außer sauren Industrie-Regentropfen spitz wie Eispickel hatte der nicht viel übrig für ihn. Die wunderbaren nebulosen Träume, die ihn vor Kurzem noch himmelwärts getragen hatten waren jetzt verflogen. Er war unsanft zur Landung gebracht worden. Er fand sich in dieser frostigen Linzer Umgebung wieder, auf (wie gesagt) pissnassem eiskalten Trottoir, neben der unbefahrenen regenfeuchten nach Urin dampfenden Dametzstraße, die ein paar einsame unbedeutende Lichter müde reflektierte. Weit und breit kein Leben, keine Schritte, nichts, nur tiefe seelenlose Nacht. Und zwischen zwei überfüllten stinkenden Magistrats-Mülltonnen hingestreckt, eine alte dicke tote Frau... Regenwasser ging in Bächen durch die tiefen Furchen in ihrem alten Gesicht und nahm aufgeweichte bunte Schminke über ihren Hals hin mit. In den Kragen ihrer irgendwann einmal weißer als weiß gewesenen Bluse.
Trotzdem war noch immer mehr Schminke im toten Gesicht, als für eine Frau dieses Alters, auch vor dem zwischen zwei Magistrats-Mülltonnen hingestreckten Zustand, hätte schick gewesen sein können. Die dicke Alte lag in einem Brei aus Mülltonnendreck und Regenwasser, der allmählich in dunkelrot wie gestocktes Altenblut und blau wie zu viel schlechte Schminke zu spiegeln begann. Es roch nach abgelebtem Fleisch. Wie gekotzter österreichischer Speck! Mit der rechten Hand hielt die dicke Alte eine große schwere schwarze Lederhandtasche festgekrallt, deren metallumrahmte Lederhandtaschen-Verschlussklappe wie ein schreiendes Tiermaul offen stand. Der gesamte Inhalt der Lederhandtasche war großflächig verstreut auf den Asphalt gespieen. Ein Gebetbuch mit bunten Heiligenbildern Dieser unangenehme Anblick entließ ihn endgültig aus seinen Träumen in die frostige Wirklichkeit auf diesen beschissenen Vorstadtasphalt hin. Höchst unerquicklich. Aber was tun? Linz, Nacht, unwirtliche Umgebung, schlimme Leiche... Es fiel ihm nichts ein. Swar wohl zu kalt um lebensnah denken zu können! So beschloss Es war aber nichts mehr in der Alten. Kalt wie ein toter
Fisch. Nichts mehr zu holen. Wahrscheinlich abgeklatscht und ausgeraubt von konsumverpesteten jungen Menschen dieser Stadt, die sich nicht mehr auskennen in dieser schnelllebigen Heutzutagewelt, die keine Ahnung mehr haben was man tun darf und was nicht, alles fernsehbrutal schmerzund gefühllos, alle zu geschwind unterwegs für ein herzensgutes Menschsein! War das jetzt lieb genug gedacht? Nein, swar immer noch kalt! Hieß nochmals sozial nachlegen! Diese armen kleinen Schweinekinder, diese liebeskranken channelhoppenden Hirnsurfopfer. Ah, oh, diese verlassenen verlorenen Elternparadiesjäger, da zwischen hundert Weltprogrammen, grausam zeitbelichtet und im Grunde schuldlos an allem, schuldlos! Ja! Ah, oh...! Langsam begann sich etwas warmzulaufen in ihm, jetzt gerade wars schon wie lauwarm Duschen. Ich liebe euch alle! Ich vergebe euch allen! Ich erlöse euch von allem übel!, schrie er jetzt lauthals in die eisige Nacht. Ihm wurde immer wärmer! Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch erquicken und heilen! Heiß! Aus irgendeinem finsteren Schlafzimmerfenster der Stadthäuserfront kam ein verschlafener Schrei nach Ruhe. Er wuchtete seine hundertzehn Kilogramm hoch. Mit der dicken Alten war es längst vorbei. Arme alte fette Oma!, sagte er: Wärst auch lieber zuhause vor dem Fernseher gestorben. So ein Unglück! Er war aufgestanden, wie gesagt, kniete aber jetzt noch einmal nieder und küsste die ohrenlose Leiche leidenschaftlich fest auf den toten fischkalten Mund. Pfui Teufel!, egal, das musste sie wohl verdient haben in ihrem vermutlich gar nicht so einfachen Nachkriegsleben, die dicke Alte, bestimmt! Ganz heiß! Er, die brave Geschichtssumme. Denkbar dankbar österreichisch. Das war ja alles nicht so leicht gewesen, damals. Der Wiederaufbau, den Grundstein zu legen für so ein Linz! Noch heißer! Manche würden ja wahrscheinlich gar nicht so gut leben können da hier jetzt, ohne die Aufbauarbeit so eines Menschen. Blut, Schweiß und Tränen! Krieg und Wiederaufbau! Er küsste die Leiche dankwissend, solange bis er ihren zersetzten fauligen Speichel spürte. Noch viel heißer! Er entfernte seine wulstigen Lippen von den ihren und er wusste, dass das noch immer nicht alles gewesen sein wollte. Aber erst einmal knöpfte er sich seinen Trenchcoat auf, um Körperhitze abzulassen. Ordentliches Sozialverhalten konnte einem verdammt viel Wärme geben! Feeling hot, hot, hot! Er klappte den Verschluss
der großen schweren schwarzen Lederhandtasche zu und
stand wieder auf. Er umschlang den Körper der dicken toten Alten im bewährten und bekannten Rautekgriff, ein hierzulande zumeist bei Unfällen angewandter Griff, der heimischen Rot- sowie Schwarzkreuzhelfern das Heben fettschwerer Leichenkörper leichter macht und knickte die leblose aber schon etwas leichenstarre
dicke Alte mit einiger Mühe – schließlich knochenkrachend – so zusammen, dass sie ein eingesessenes L ergab. Diesen L-förmigen Fleischbuchstaben setzte er gegen eine der Mülltonnen, sodass der Altenkörper –
vorher in den eigenen Ausscheidungen und allerhand Dreck versinkend – jetzt etwas Aufrechtes, Erhabenes, Würdevolles, Ordentliches, beinahe Lebendiges bekam. Er richtete der dicken Alten auch den schiefhängenden schweren Kopf ohne Ohren gerade und drückte ihr die leer starrenden Augen zu. Die von der dicken Alten auf den Asphalt hingestreckte linke Hand – die taschenlos zusammengekrallte – hob er vom Boden auf und drückte
sie – so wie die Rechte es schon totenstarr tat – um den Griff der großen schweren schwarzen Lederhandtasche. Die Lederhandtasche rückte er – jetzt am Griff von zwei braungefleckten Händen festgehalten – auf den Schoss der dicken Alten hin. Es sah jetzt beinahe so aus als würde eine wohlbeleibte alte Dame während einer nächtlichen Busfahrt von Braunau nach Linz auf ihrem Sitzplatz einge(k)nickt sein. Als würde sie im Bus schlafen und gerade zu ihren in der Kulturhauptstadt Europas lebenden (selten besuchten) Kindern und Enkeln reisen, nicht ohne vorher ihre große schwarze Lederhandtasche mit Schokoladenschätzen gefüllt zu haben und die Handtasche deshalb beidhändig gut zu sichern. Einzig und alleine der schlimm zerschlagene Kopf und die fehlenden Ohren störten dieses Bild. Er zog sein Hemd aus und wickelte es auch um seine
Hüften. Sein nackter fleischiger Oberkörper dampfte
vor Hitze in der Kälte. Ohne einen Blick zurückzuwerfen ging er fort in den Regen. Es dämmerte
bereits. Wo bin ich da bloß wieder hingeflogen?!, dachte er in die Linzer Dametzstraße hinein.
Erst jetzt spürte er diesen furchtbar trockenen und bleiernen Geschmack im Mund. Etwas das wie giftige Pilzfäden bis in die letzte Faser des Gehirns hineinwucherte, wenn man Stunden zuvor schweren Alkohol getrunken hatte (und nicht zu wenig wahrscheinlich). Aber genau wusste er nichts mehr von dem was er Stunden zuvor getan oder getrunken hatte und wollte auch nichts mehr wissen davon. Er bewegte sich müde und warmgedacht seinen beiden Füssen nach, die ihn sicher – wie von alleine – mit dem Instinkt treuer gescheiter Haustiere ausgestattet in jene Gegend zurückbringen wollten, die er irgendwo wusste oben im Kopf. Dorthin wo er zuhause war in dieser regennassen kalten Stadt. Er bewegte seine voluminösen hundertzehn Kilogramm seinen beiden Füssen nach – Franz und Erich – die ihm durch ihr zielstrebiges Schreiten Sicherheit gaben in dieser fremden wirklichen Welt... |