TUNE IN - HAUPTBAHNHOF

 

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Marion Jerschowa - „Requiem auf einen Bahnhof“

Ich gebe zu, sein Nachfolger kann sich sehen lassen, von außen wie von innen. Das viele Licht, die Weitläufigkeit, das Flair der großen Welt. Sogar unser Flughafen beneidet ihn darum. Richtig zum Abheben ist er, der neue Bahnhof!

Ich gebe weiters zu, daß ich den alten auch manchmal als behäbig und etwas überholungsbedürftig empfunden habe. Der schmale, von Zigaretten- und Urindünsten erfüllte Korridor, der einen pompösen Kassensaal mit einer öden Ankunftshalle verband. Aber daß man ihn deshalb gleich in Grund und Boden stampfen musste? Nichts ist von ihm geblieben, außer den beiden Löwen, die man gnadenhalber wieder aufgestellt hat. Ein Allerweltsterminal ist an seine Stelle getreten, ein Glaspalast von kalter Pracht.

Ja, im Rückblick verklärt sich natürlich alles. Wenn ichs genau überlege, so habe ich den alten Bahnhof doch gar nie so richtig wahrgenommen, höchstens in den Augen-blicken schmerzhaften Abschieds oder eines ärgernisses. Er war so selbstverständlich in seiner stummen Präsenz, ist am Anfang und am Ende all meiner Ausreißversuche aus dem Alltag gestanden, damals, als das Fliegen noch nicht so selbstverständlich war wie heute. Zum Tor in die Welt war er mir geworden, das man mit ein wenig Herzklopfen durchschritt, aber auch zu einem Ort tödlicher Langeweile, wenn man vergeblich auf einen Zug wartete.

Was auch immer, eines ist sicher: auf ihn war Verlaß. Er war ein ruhender Pol in meinem rastlosen Leben. Er blieb zurück, wenn ich wegfuhr, und wenn ich wiederkam, nahm er mich freudig in Empfang. Getreu seiner Aufgabe als Hauptbahnhof einer Hauptstadt hat er alle meine Züge zum Stehen gebracht. Alle, bis auf einen. Stolz fuhr der an ihm vorüber, und er hatte das Nachsehen. Genauer gesagt, ich hatte es. Und zwar war das so.

Ich befand mich wieder einmal auf der Rückreise von einem längeren Auslandsaufenthalt. Mein Flugzeug war mit Verspätung in Wien-Schwechat gelandet, und ich hatte den Anschlussflug nach Linz versäumt. So fuhr ich mit dem Taxi auf den Wiener Westbahnhof, in der Hoffnung, dort nicht allzu lange warten zu müssen. Ich war müde und hungrig und hatte genug vom Unterwegssein. Aber Geduld war angesagt – der nächste Zug ging laut Fahrplan erst in mehr als einer Stunde. Während ich mit meinem Koffer ratlos auf dem Bahnsteig stand, kam plötzlich eine Durchsage: Achtung, Zug fährt ab!... Mein Blick fiel zufällig auf das Türschild neben mir. Und was las ich? Zürich und noch irgendwas!

Warum war dieser Zug nicht auf der Anzeigetafel gestanden? Ich überlegte nicht lange, sondern wuchtete den Koffer die Stufen hinauf. Fauchend schloß sich hinter mir die Türe. Erleichtert ließ ich mich in einen der samtbezogenen Sitze fallen und sah schon die sosehr vermißte Silhouette meiner Stadt auf mich zurollen. Wie lieb sie mir plötzlich war in all ihrer industriellen Hässlichkeit.

Ihre Fahrkarte bitte!... Der vertraute dialektgefärbte Tonfall holte mich sanft aus meinen Träumen. Ja, natürlich… Mia bleibn aba net in Linz stehn. Mia foan bis Innsbruck durch!... Jetzt war ich endgültig wach. Was?!

Dös is a Autoreisezug… Aber… Nein, er hatte kein Einsehen mit mir, egal, was ich für Horrorszenarien vor ihm ausmalte, wenn er mich nicht in Linz aussteigen ließe, von versäumten Geschäftsterminen bis zu unbe-aufsichtigten Kleinkindern. Fahrplan sei Fahrplan, in Linz kein Halt vorgesehen, eine Verständigung des Lokführers nicht möglich, da kein Zugang zur Lok, und der Funkkontakt mit dem Lokführer gestört, aber wenn ich Glück hätte, bliebe er in Salzburg kurz stehen, dies allerdings nur im Rangierbereich.

So also kam es, daß zum ersten Mal in meinem Leben das blaue Schild „Hauptbahnhof Linz“ an mir vorbeizog, und mit ihm alles, was es signalisierte: das in die Jahre gekommene graue Gebäude, der marmorne Kassensaal, die steinernen Löwen, mit anderen Worten, das Tor zu meiner kleinen Welt.