TUNE IN - CINEMATOGRAPH

 

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Adelheid Dahimène - „Weiter oben unten am Wasser“

Ich besuche meinen Sohn, der im ersten Stock des cinema-tographischen Gebäudes wohnt. Die Häuserzeile gegen-über in Urfahr erinnert mich ein wenig an die schmale, venezianische Insel La Giudecca und auch herüben an der Oberen Donaulände habe ich eigenartig grenzüber-schreitende Empfindungen.
Neben der Eingangstür steht ein kleiner Tisch, an dem Georg, der Besitzer und Kinobetreiber, in seinem schwarz-weißen Stummfilmanzug mit der unauslöschlichen Fliege am zugeknöpften Hals sitzt, immer der perfekte, englische Gentleman und als solcher der unverzichtbarste Teil seines filmischen Inventars. Wir wechseln ein paar höfliche Worte
und schminken uns dazu aus dem Off klavierbegleitet Buster-Keaton-gleich auf dasselbe Lächeln seit dem Laufen-
lernen der Bilder. Als ich an die Tür klopfe, kratzt mir schon der Hund seine Erwartung entgegen, springt mir beim Eintreten ins Gesicht und fordert mit treuhartem Blick den gewohnten Knochen aus meiner Tasche ein.

Das Fenster ist weit offen, es läßt mich direkt in die Donau-strömung fallen. Ein selten schöner Untergang im Wasser
empfängt mich neben der schleckenden Tierschnauze feuchtkalt und ich stehe unschlüssig da inmitten dieser vierbeinig entfachten Nervosität und dem trägen Gewoge des Wellenausschnitts im Fenstergeviert. Draußen winselt der eindeutig schwarze Hund von Georg und will auch hereingelassen werden. Während das Haus mit gesteigertem Bellen
zugedröhnt wird, legt mein Sohn Musik auf, um durch zungenbrecherischen HipHop sowas wie einen Retourgang zwischen Tier- und Menschenwelt zu schalten. Gleichzeitig zieht zwei Stockwerke tiefer ein Transportschiff den Fluß hinunter, ich sehe die glatt verpackte Fracht als Schmuggelgut ins Donaudelta münden, sehe an den Kabinenfenstern graugelbe Gardinen eine Intimität schützen, die festlands auf leicht zappbaren Fernsehkanälen ins Weißwaschbare und Durchsichtige verraten wird, sehe zwei Fahrräder und ein Kleinauto als Mitbringsel für Balkanausflüge an Deck stehen, sehe eine nationale Fahne im Wind flattern und frage ins Zimmerdunkle, ob wir nicht die Donau entlang bis zum Lentos gehen und dort in der späten Sonne noch einen Kaffee trinken wollen.

Direkt gegenüber vom Haus führt eine Stiege ans fließende Wasser. Der Hund kriegt freies Geleit mit loser Leine und schnüffelt an allen gelbgrün vergammelten Grasresten, die hie und da aus einem Wasen noch ihre Halme hochkriegen zu einer schwachbrüstigen Demonstration von Natur. Aludosen, Plastikgeknitter und halbkindervolle Kondome liegen herum, an den Wänden zur Straße hinauf bahnen sich Graffitis ihren senkrecht gesprühten Weg in die streunende Wahrnehmung, und je nach Lichteinfall und Aufmerksamkeit fallen dem Spaziergänger entweder knappe Botschaften ins Auge oder nur das Form- und Farbenspiel der nächtlichen Schwärmer. Im Gleichschritt dazu singt uns der parallel dahingleitende Flußtransporter sein ewiges Lied:

Jedes Schiff eine geheime Fracht inmitten
Kajüten langes Deck darauf Sand oder Kohle
unter Planen fünf Tonnen äpfel unter Glas
Zitronen und Nüsse vielleicht am Mast eine
Fahne rumänisch bulgarisch der Link in den
Balkan wo Linden aufblühen in Rouse vor
Anker gelegen den noch schaukelnden Schritt
festländisch verwogen am Gleichstrom der Bäume
Holz zugeladen Ziegel und Scherben und
Passagiere in Liegestuhlhaltung ihre Körper auf
Halbmast unter den Brücken ihr Umfang geschmälert
an den Karpaten wird erst wieder füllig im Delta
ein Gedärm die Kanäle Mineralwasserflaschen aus
Linz ein Fest für die Flutung Krone der Schöpfung
Besatzung gelöscht und Bulgarische Hochzeit der
Pianist greift in die Fahrt voraus Rattenschwänze
heben den Graustich auf Fotos ins große Manöver

Im Zickzacklauf der Hund ist glücklich mit allem, rennt sich die Pfoten satt am gepflasterten Weg, ihn kümmern nur seine vier Beine, pisst dort und da gegen Steine und wirft hin und wieder aus prüfenden Augenwinkeln einen Scannerblick auf uns Nachzügler zurück. Sein fröhlicher Vorsprung läßt ihn deshalb nicht hören, was wir gerade erinnern. Zu Silvester nämlich, als er allein in der Wohnung war und die ganze Stadt an Feuerwerkskörpern und explodierenden Knallern ihr Gesicht zu verlieren drohte, da läuteten seine Hundeohren solchen Alarm, daß er nicht mehr aus noch ein wusste und erst anfing, gegen die Tür zu rennen, dann anfing, den Fensterrahmen Splitter für Splitter herauszubeißen um dem Krachen nach Draußen zu entfliehen, aber als es nicht aufhörte rundum zu donnern und auch niemand kam, ihn vor dem Inferno und seiner eigenen Panik zu retten, füllte sich sein Magen weiter mit den Holzspänen aus verschlossenen Zimmeröffnungen und er fraß die ganze, sprühende Linzer Neujahrsnacht so lange in seine aufgeregten Därme, bis ihm zum Kotzen schlecht wurde und die sperrigen Schiefern in einer bleichgelben Breisoße endlich aus ihm herausgekotzt waren.

Die Kellnerin im Lentos bringt neben den Kaffees auch noch eine Gratisschale Wasser für den Hund. Als wir nach Hause zurückkommen und ich an der Windschutzscheibe einen Strafzettel finde, weil ich auf dem Behindertenparkplatz stehe, sitzt Georg nicht mehr an seinem luftigen Tisch. Wir treffen ihn oben im Büro, wo er sein nächstes Programm zum fünfzehnjährigen Jubiläum des Cinematographen ausarbeitet. Auch Leni Riefenstahl wird in diesem Rahmen bei ihm auftreten und ihren „Triumph des Willens“ zum Besten geben lassen.

Der Hund meines Sohnes und der von Georg schauen sich tief in die Augen und wir vermuten, daß sie gerade zwischen zwei Seufzern und Blinzlern einen Deal geschlossen haben, den sie beim nächsten Silvesterspektakel ohne das geringste Wimpernzucken auch einhalten werden. Unserer Vermutung zufolge heißt die übereinkunft aus der Stummfilmsprache übersetzt soviel wie: Wir lassen uns durch kein Reich der Welt mehr kleinkriegen, und käme es auch noch so lautstark wie es sollte und wollte und könnte daher.

Doch, ich habe einen Knochen mitgebracht, tief in meiner Tasche unter dem Reisepaß und den Taschentüchern und den Zigarren vergraben. Jetzt, am Ende des Tages, kriegst du ihn. Während der Hund an mir hochspringt, fährt draußen
ein unsagbar schnittiges Motorboot die Donau hinunter. Es sprüht und rast so schnell vorbei, daß von ihm nur ein quirlig-sprudelnder Wasserstreifen bleibt, der in den nächsten Sekunden links und rechts auf unseren Wangen als Kriegsbemalung eines aussterbenden Indianerstammes ganz kurz aufleuchtend und gleich wieder zerrinnend zu sehen sein wird.